Urbanes Grün zum Essen - Tischlein deck` Dich - auch in München?
Dienstag, 18. Februar 2014
19:00 Uhr
Green City Energy AG, Zirkus-Krone-Str. 10 (Eingang Georg-Schätzel-Str.), 80335 München, 6. Stock (ÖPNV „Hackerbrücke“)
Referent: Lutz Kosack, Landschaftsplaner und Initiator der „Essbaren Stadt Andernach“, Stadtgärtner , Stadt Andernach
Milde Temperaturen künden vom Frühling, und, gerade zum richtigen Zeitpunkt im Jahr, wenn es darum geht, das zu säen, was man am Ende des Jahres zu ernten gedenkt, kam Lutz Kosack in die Umwelt-Akademie, um die „Essbare Stadt Andernach“ vorzustellen.
Seinen Vortrag begann er mit einer historischen Betrachtung über die Trennung von Stadt und Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Er erinnerte daran, dass es im 2. Weltkrieg Not- und Hungerzeiten gab, in denen die Menschen auch in Städten wieder Gemüse anbauten. Alte Menschen können heute noch davon berichten. Städte sind Lebens-Mittelpunkte - warum also nicht auch für Lebensmittel-Punkte? Genug Platz ist schließlich ausgewiesen für Parkplätze, Gewerbeflächen, Verkehrsflächen und Konsumoasen – warum also nicht auch für echte Lebensmittler? Begonnen hat die Idee in Andernach mit dem kreativen Enthusiasmus und der Tatkraft von 4-5 Leuten, die jedoch erst einmal gegen eine Horde von Bedenkenträger aus allen Lagern kämpfen mussten. Bevor die erste Saat ausgebracht war, „wussten“ mehr Leute, warum so ein Projekt nicht funktionieren könne, seien es der öffentliche Vandalismus, pinkelnde Hunde, gierige Bürger, fehlende geeignete Flächen oder der kommunale Finanznotstand, die es vereiteln würden. Nach dem Prinzip „es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, wurden die ersten Spatenstiche auf „Angstflächen“ getan, vermüllte Brachflächen in Bahnhofsnähe. Sie verwandelte man als Erste in Gemüsegärten und, oh Wunder, die Vermüllung hörte auf. Sowohl die Bürger wie die Hunde traten den Bepflanzungen mit neuer Wahrnehmung und Respekt entgegen. Man beobachtete, dass der beste Schutz vor Vandalismus durch achtsame Bewirtschaftung „geschieht“ – denn die natürliche Reaktion der Einwohner auf die Grünflächenveredelung ist Wertschätzung. Sogar Jugendliche fühlen sich aufgerufen, Bepflanzungen zu bewachen – obwohl man das Gegenteil von ihnen erwartet hätte.
Statt „Betreten verboten“ heißt es „Pflücken erlaubt“. Erst mussten sich die Bürger daran gewöhnen, sich ihr Essen einfach Pflücken zu dürfen, ohne zu meinen, dafür schief angeschaut zu werden. Mit der Zeit hat es sich eingebürgert, abends nach der Arbeit sein Abendessen auf dem Nachhauseweg zu sammeln. Die südexponierte Stadtmauer bietet dem genussfreudigen Gaumen Khakis, Feigen, Bitterorangen, Granatäpfel, Mispel, Quitte an, in und um Andernach sprießen Mangold, Grünkohl, Salate, Kräuter, Bohnen, Kartoffeln, Kürbisse, Zucchini, Beeren, Weintrauben, Obstbäume, Walnussbäume, 101 Sorten Tomaten und vieles mehr. Wechselbepflanzungen in Blumentrögen, die pro Jahr 58 €/qm kosten, wurden mit Wildstauden ausgetauscht, die den kommunalen Haushalt mit 11 €/qm entlasten. Die Stadtwerke helfen in der sommerlichen Hitze bei der Bewässerung des großflächigen Gemüsegrüns mit geeigneten Wasserführungssystemen. 5 km vor den Toren der Stadt entstand ein 14 ha großer Permakulturgarten, dessen Erzeugnisse im „FairRegio“ Laden in der Innenstadt verkauft werden – zu Preisen, die sich auch Hartz-IV Empfänger leisten können. Mit diesem Gemüse wird auch eine Kantine für Hilfebedürftige beliefert, wo es für 1€ ein Mittagessen in biologischer Qualität gibt. Im Rahmen der „Qualifizierungsgesellschaft“ wurden 20 Langzeitarbeitslose für die täglichen Gärtnerarbeiten unter fachlicher Anleitung eingebunden, die für die tägliche Pflege verantwortlich sind. Ihr Engagement wird von den Bürgern allseits geschätzt – ohne sie würde das Projekt so nicht stehen - und auf diese Weise entwickeln sie für sich neues Selbstbewusstsein und berufliche Perspektiven, manche verwenden sogar ihre Freizeit zum Gießen und Pflegen der Stadtgärten. Der von Menschen nur als Nutzpflanze angesehene Grünkohl wurde auch als grüne Zierpflanze in Blumenbeete gesetzt, eine Verkehrsinsel wurde mit buntem Mangold bestückt, woraufhin interessierte Bürger sich nach den schönen „exotischen“ Blumen erkundigten, die ihnen eine tägliche Augenweide sind. Duft in der Luft und guter Geschmack durchzieht die ganze Stadt. Der fahrbare Schulgarten, übers Jahr durch Schüler gepflegt, machte auf der Bundesgartenschau Furore und ist das mobile Aushängeschild des Vorzeigeprojektes Andernach. Aus ökologisch sinnfreien Grünflächen, die im Jahr ca. 14 mal gemäht werden mussten, und durch Rasenmähereinsatz Baumwurzeln beschädigten, wurden bunte Wiesen mit Sonnenblumen und blauem Lein. Jedes Jahr wird ein „Motto“ ausgegeben, wie z.B. das Jahr der Tomaten, in dem 101 Tomatensorten gepflanzt wurden, oder das Jahr der Bohne etc., um das Bewusstsein dafür zu wecken, wie viele Sorten alleine nur eine Fruchtart hervorbringt. Zur Erntezeit gibt es im Rahmen eines Stadtfestes den großen Schmaus für alle Bürger, wo das Mottogemüse in allen denkbaren Variationen serviert wird. Beim Anbau wird vollständig auf Herbizide, mineralische Dünger und Torferde verzichtet, und, sofern erhältlich, nur samenfeste Sorten verwendet. Bürger werden explizit aufgefordert, Samen der angebauten Sorten zu vermehren. Auch Tiere bekommen wieder einen Platz in der Stadt: Die neue Attraktion in Andernach ist ein mobiler Hühnerstall, zu dem sich jetzt auch ein - vermutlich vereinsamter - Hahn aus unbekannter Herkunft gesellte, er kräht nun die Bürger Andernachs morgens aus dem Schlaf. Auf dem Gelände des Permakulturgartens leben auch Schweine, sie sind gute Resteverwerter, Ziegen und Schafe zur Abweidung von Gras. In der neuen Stadtnatur gibt es zahlreiche Nistplätze für Vögel, Insektenhotels, genug Landeplätze für Schmetterlinge und einladende Nektaroasen für Bienen, so dass sie sich wieder vermehren können. Auf dem Land ist die großflächige Massenausbringung von Gülle und der verbreitete Einsatz von Spritzmittel eine tödliche Bedrohung für sehr viele Tier- und Pflanzenarten. BiodiverCity Andernach plant munter weiter: Die Ansiedlung von Bienenstöcken steht auf der Wunschliste, die grünste Hochgarage Deutschlands ist in Planung, Bürger sollen dazu inspiriert werden, ihre Privatgärten als Naturoasen umzugestalten, und deshalb hat man bereits einen „Dummygarten“ zu Schulungszwecken eingerichtet, der jedem Interessierten eine Vorstellung davon gibt, wie sie harmonisch gestaltet werden könnte; auch Indoor-Landscaping mit Hochbeeten in Büros steht als Idee im Raum und Dach- und Fassadenbegrünungen zur Luftverbesserung.
Andernach verwendet 5% der öffentlichen Flächen – und das genügt, um die Aufenthaltsqualität für alle Bürger signifikant zu erhöhen. Das neue urbane Grün wurde zu einer echten Begegnungsstätte, und inspiriert die Einwohner, sich über Gemüse, Saatgut, Ernährungsfragen und Rezepte auszutauschen. Die Gemüsegeschäfte verzeichnen beste Umsätze, denn das gepflanzte Gemüse reicht bei weitem nicht für die alltägliche Rundum-Versorgung für alle Einwohner, doch, nie zuvor war Gemüse und Essensqualität so im Mittelpunkt vieler Gespräche wie jetzt.
Das Konzept Andernach besteht aus vielen bunten Bausteinen, die sich zu einem großen Mosaik zusammenfügen. Andernach demonstriert eine praktikable Herangehensweise an vielschichtige sozio-ökonomisch-ökologische Fragen, die in jeder Stadt zur Debatte stehen. Grünflächenveredelung versus einer ökologisch sinnfreien Grünflächenverwaltung erzeugt „biodiverse“ synergetische Impulse im gesamten Stadtorganismus, wovon Menschen, Tiere und Pflanzen profitieren. Man muss sich vor Augen halten, dass die Industrialisierung bereits 75% der Biodiversität unwiderbringlich verschlungen hat, und jede einzelne verschwundene Pflanzen- und Tierart ein Kulturgutverlust darstellt, vergleichbar der Zerstörung eines Heiligtums wie dem Kölner Dom oder der Frauenkirche in München. Letztlich ist der Schaden durch jeden Artenverlust im Lebensnetzwerk Natur viel größer als es durch einen Kircheneinsturz versinnbildlicht werden kann, denn jeder einzelne Artenverlust bedeutet das Verschwinden eines ganzen Netzwerkes von sich gegenseitig nährenden Pflanzen- und Tierarten aus dem Naturkreislauf.
Andernach wird überschwemmt von neugierigen Touristen, Schulklassen und kommunalen Abordnungen aus ganz Deutschland, die Geschmack an dem appetitanregendem Grünkonzept gefunden haben. Haar bei München plant bereits die ersten Umsetzungsschritte für 2014. Ökologisch und ökonomisch sinnvolle Begrünung ist ein immens wichtiger Beitrag zur Klimaregulierung, denn Grünflächen und Bäume sind die besten „Klimaanlagen“, und filtern großflächig Feinstaub aus der Luft. Diese Projekt hat das Potential parteiübergreifend konsensfähig zu sein, denn für die FDP ist es „ein liberales bürgernahes Konzept“, für die SPD ist es ein „beschäftigungspolitisch richtiger Schritt“, die CDU schreibt sich auf die Fahnen, damit die Schöpfung zu bewahren, und für die Grünen gibt es wohl kaum ein grüneres Konzept als das von Andernach.
Die urbane Naturgestaltung wurde nach dem Prinzip „top–down“ durchgeführt, heißt, von der Stadtverwaltung angestoßen und erhalten. Projekte dieser Art entstehen in anderen Kommunen meist „bottom-up“, so dass die Hauptinitiative von Bürgern ausgeht, und die Impulse von den Stadtverwaltungen idealerweise aufgenommen werden. Die Wunschvorstellung wäre, dass sich „top-down“ mit „bottom-up“ in der Mitte trifft und synergetisch miteinander kooperiert. Auch in Andernach wird darüber nachgedacht, ob und wie es langfristig möglich sein wird, genug engagierte Bürger für die Erhaltung und des Ausbaus von BiodiverCity Andernach zu gewinnen sind.
Land könnte auf diese Weise auch in der Stadt bewahrt werden - ist das nicht eine schöne Aussicht? Wir danken Herrn Lutz Kosack für seinen Herz erfrischenden Vortrag, und wünschen ihm für Andernach eine fruchtbare und blühende Zukunft.
P.S.: Und last, but not least, eine Zeile aus einem Gedicht von Ralf Sartori:
„Bedeutet, einen Garten zu erschaffen, nicht, der Welt einen neuen Ort zu geben, an dem Nymphen tanzen können?“