Zeitpolitik und nachhaltiges Leben
Dienstag, 4. Juli 2017
Referent: Dr. Jürgen P. Rinderspacher, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP) e.V., Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster
Mit dem Begriff Nachhaltigkeit können inzwischen die meisten Menschen etwas anfangen. Was aber meint Zeitpolitik? Und was haben beide miteinander zu tun?
Jedem von uns steht es offen, sein privates Leben nachhaltig(er) zu gestalten. Schließlich können wir frei entscheiden, ob wir unseren Kühlschrank mit Bioprodukten füllen, fair hergestellte Kleidung kaufen, Erledigungen lieber zu Fuß oder per Rad machen, mit Holzpellets statt Erdöl heizen. Ein nachhaltiger Lebensstil geht aber über das reine Konsumverhalten hinaus und fragt auch danach, wie wir mit unserer Zeit, unserem individuellen Lebensrhythmus und damit langfristig mit unserer Gesundheit und Zufriedenheit umgehen. Hier, im privaten Bereich, sind wir unser „eigener Herr“: Ob wir unsere Freizeit mithilfe einer OrganizerApp minutiös durchplanen oder lieber unseren Zeitwohlstand genießen und die Seele baumeln lassen – das haben wir selbst in der Hand.
Im öffentlichen Leben dagegen sind dem persönlichen Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit bezüglich unserer alltäglichen Zeitstrukturen oftmals Grenzen gesetzt: So könnten an den meisten Schulen Schulbeginn und -schluss, in den Betrieben Arbeitszeiten, Öffnungszeiten von Behörden und Dienstleistern und öffentlicher Nahverkehr in Kommunen besser aufeinander abgestimmt sein, um den Menschen einen nachhaltigeren Tagesablauf zu ermöglichen; im Sinne von mehr Wohlbefinden, Zufriedenheit, Produktivität und Gesundheit, also mehr Lebensqualität.
Und hier kommt die Zeitpolitik ins Spiel. „Politik“ verstanden als Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Beteiligten, z.B. Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeber über die zeitliche Gestaltung der Arbeitszeit (Beginn/Ende, Freizeit, Arbeitszeitverkürzung, Elternzeit, neue Arbeitszeitmodelle etc.), z.B. im Stadtrat über die Genehmigung (oder Verweigerung) eines zusätzlichen Einkaufstags am Sonntag, z.B. im Bayerischen Landtag über die Einführung eines zusätzlichen Feiertages (wie z.B. der Reformationstag in Bayern), z.B. in der Gesamtgesellschaft über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (zusätzlich „freie“ Zeit, Freimachung eines Arbeitsplatzes für eine andere Person/“für“ Roboter) usw.
Die Aufgabe von Zeitpolitik ist es, nachhaltige Lebensstile zu unterstützen, indem sie die politischen Rahmenbedingungen entsprechend setzt und damit einem gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Lebensqualität in allen Bereichen den Weg bereitet. Was genau kann die Politik, die Gesellschaft und der Einzelne tun, um die Alltagszeitstrukturen zu verbessern und damit eine zukunftsfähige, gesunde und nachhaltige Lebensweise zu fördern? Welche Modelle gibt es bereits – und mit welchen Ergebnissen? Wie lässt sich der Ansatz „für mehr Zeit-Investition eine bessere Umwelt“ verwirklichen? Beispiel: Zur Arbeit radeln verbraucht zwar mehr individuelle Zeit, eine Zeit-Investition also, verbessert aber durch Minderung von Schadstoffemissionen beim Autofahren die Umweltsituation – wie kann der Einzelne dazu motiviert werden, wie kann Kommune, wie kann Arbeitswelt solche Investitionen unterstützen?
Diese Fragen hat Dr. Jürgen P. Rinderspacher, Experte auf dem Gebiet der Ethik der Zeit und der Zeitpolitik, mit uns diskutiert. Zeit als tiefgreifendes gesellschaftspolitisches Thema.
Präsentation Dr. Jürgen P. Rinderspacher: Klicken Sie hier