Energiewende ohne blackout – Wird das Stromnetz zur Achillesferse unserer Gesellschaft?
von Heinrich Gartmair
books on demand, ISBN 978-3-8482-0350-5, Norderstedt 2012
Das Buch über die Stromübertragungsnetze unseres Referenten vom 02.02.2012, Dr. Heinrich Gartmair, Assetmanager der TenneT TSO GmbH Es wird, wenn Sie es haben wollen, speziell für Sie gedruckt. Von der Aufmachung her eher wie ein Vorlesungsskript ist es aber sehr lesenswert, zumal es für „Dich und mich“ geschrieben ist:
Keine Frage, für die Energiewende reichen Windräder, PV-Dächer, guter Wille nicht. Es bedarf auch gigantischer Investitionen in Deutschlands Infrastruktur, als wolle man eben schnell mal die Richtung aller Bundes-Autobahnen „umpolen“: Die Energiewende benötigt unter anderem eine Neuorientierung der deutschen und europäischen Stromverteilung: Weg von wenigen zentralen (Atom- und Braunkohle-) Standorten, hin zu dezentralen Erzeugungseinheiten von Kommunen, Investitionsfonds, Bürgerenergiegenossenschaften. Oder von neuen zentralen Einheiten, wie den offshore-Windparks in der Nordsee. Die Stromnachfrage ist unverändert. „Wohin“ ist klar, „woher“ und „wie“ eher weniger.
Da hilft Gartmair mit seinem Grundlagen-Buch durchaus, er beschreibt das Zusammenspiel von Stromerzeugung, Netzen, Stromverbrauch und Strommarkt: Stromnetze sind eine Achillesferse unserer stromhungrigen Industriegesellschaft; von ihnen hängen nicht nur unser gesicherter Strom fürs abendliche Fernsehen ab, sondern unser aller Wohlergehen, vom operierenden Klinikum bis zur Aluminium-Produktion fürs neue Auto. Das erste Kapitel des Buches schildert denn auch – amüsant – die ersten drei Wochen ohne „Saft“.
Doch nicht die vier großen Versorger – RWE, E.ON, EnBW, Vattenfall – sind verantwortlich, sondern die vier, aus ihnen hervorgegangenen, bewusst abgespaltenen überregionalen Netzbetreiber: TenneT TSO GmbH, Elia/50Hertz Transmission GmbH, amprion GmbH (Commerz(bank) Real) und EnBw Transnetze AG. Ohne sie kommt der Strom nicht in die Steckdose und nicht aus ihr heraus. Überwacht werden sollen sie von der Bundesnetzagentur (BNA), einer Tochter des Bundeswirtschaftsministeriums.
Strom kann in Netzen nicht gespeichert werden, die erzeugte Strommenge muss zu jedem Zeitpunkt exakt dem aktuellen Strombedarf entsprechen: Die Erzeugung folgt dem Bedarf. Problem: Sonne scheint, Wind bläst, unabhängig vom Bedarf. Angebot und Nachfrage auszugleichen, bedarf es diverser Maßnahmen, u.a. einer neuen Netz-Philosophie. Zu bedenken dabei: Der Strom sucht sich physikalisch seinen widerstandsgeringsten Weg von alleine – auch nicht gesteuert durch irgendwelche „Monopolisten“ –, und der kann über Polen und Tschechien oder Belgien nach München führen.
Und jetzt kommt der Markt: Ausserbörslich (mit buzzn haben wir am 27.09.2012 einen Vertreter am Diskussionstisch) oder börslich, z.B. der EEX in Leipzig; da können schon „Negativpreise“ auftreten, weil das Angebot die Nachfrage übersteigt. Und es wird gehandelt, viertelstündlich, täglich, auf Spekulation voraus (z.B. Termingeschäfte wie im Februar 2012 mit Frankreich, die den deutschen blackout fast „geschafft“ hätten). Oder durch Ihre „Stadtwerke“, die handeln und liefern, oder Ihren Ökostrom-Anbieter. Der Strom, der aus der Steckdose kommt, ist immer der gleiche: So erneuerbar, fossil und atomar wie der gesamte europäische „Stromsee“.
Wer zahlt für die Stromlieferung? Gartmair stellt klar: Von 1998 bis 2011 sind die Stromkosten für einen durchschnittlichen 3-Personen-Haushalt um fast 50% gestiegen; nur 10% entstammen der Lieferung, 46% sind aus Steuern, Abgaben und staatlichen Umlagen. Und die viel gescholtene EEG-Umlage, also die auf Erneuerbare Energien, ist definitiv nicht wichtigste Ursache der Stromkostensteigerung. Waren ursprünglich nur wenige stromintensive Industriekunden wie Stahl- oder Aluminiumfabriken von den Netzentgelten reduziert oder befreit, ist es mittlerweile der größere Teile des Gewerbes: Die Kosten der Energiewende, Teil Netze, trägt also der Verbraucher. 100 Milliarden Euro schätzt Gartmair für Investitionen in die technische Infrastruktur; doch ist das viel oder wenig? Meine Meinung: Volkswirtschaftlich und auf die lange Laufzeit betrachtet: Ein „Klacks“ für eine dritte industrielle Revolution Deutschlands.
„Darf es ein bisschen weniger Netz sein?“. Ja schon, abhängig von Ihrem Stromverbrauch und meinem. Die Planung liegt in Händen nicht der Vorteilsnehmer, den Netzbetreibern oder den Versorgern, sondern dem gesetzlich vorgesehenen Instrumentarium. Gartmaier zitiert Kaiser Wilhelm II.: „Ich glaube an das Pferd. Das Auto ist nur eine vorübergehende Erscheinung“. In der zweiten Hälfte 2012 werden wir den ersten ernstzunehmenden Entwurf des Nationalen Netz-Entwicklungsplans kennen.