Dienstag, 9. Juni 2015

Referent: Dr. Hanns-E. Kniepkamp, Leiter der Qualitätskommission bei Slow Food  Deutschland e.V.

Es ist ein knapp einstündiger Parforceritt durch die Welt der industriellen Lebensmittelproduktion, auf den uns der Referent hier mitnimmt – und der selbst den gut informierten Zuhörern im Publikum noch so manchen Aha-Effekt beschert:

Im Grunde ist die Sache „ganz einfach“: Wie überall in unserem Wirtschaftssystem ist Zeit Geld, das gilt auch für die Herstellung von Lebensmitteln. Je schneller etwas produziert werden kann und je weniger (Fach-)Personal dafür gebraucht wird, desto billiger wird die Sache, für den Hersteller und den Konsumenten. Leider verträgt sich diese Produktionsweise nur schlecht mit den natürlichen Eigenschaften der meisten Nahrungsmittel – ein Umstand, dem die Lebensmittelindustrie mithilfe von allerlei Zusatzstoffen ein Schnippchen zu schlagen versucht. Das fängt schon bei Auswahl der zu verarbeitenden Zutaten an: Eine Kohlsorte, deren Strunk sich maschinell schwer entfernen lässt und immer wieder zu „Staus“ in der Produktionsstraße führt, wird eben nicht mehr verarbeitet und dann irgendwann auch gar nicht mehr großflächig angebaut. Auf diese Weise verringern sich nach und nach die Biodiversität auf unseren Äckern und damit auch das Nahrungsmittelangebot. Der beste Freund der Industrie ist allerdings das Chemielabor: Ohne den großzügigen Einsatz von Konservierungsstoffen, Stabilisatoren, Säuerungsmitteln und Co. ist es schlicht nicht möglich, z.B. eine Wurst in 14 Tagen zur Reife zu bringen, die natürlicherweise dafür drei bis 12 Monate braucht. Wasser und Stabilisatoren sorgen dafür, dass aus 80 kg Schinken 120 kg verkaufsfertige Ware werden. Verdickungsmittel wie das allgegenwärtige Guarkernmehl überlisten sogar die Gesetze der Physik, indem sie z.B. die Gewürze im Kräuteressig dauerhaft in der Schwebe halten. Auch bei den Aromastoffen läuft die Lebensmittelchemie zu Hochform auf. Selbst in einem „natürlichen Himbeeraroma“ dürfen 5% aus dem Labor stammen. Man darf sich fragen, welcher Anteil dabei der geschmackbildende ist, die 95% Natur oder die 5% Chemie? Dass bei der Produktion auch Hilfsstoffe eingesetzt werden dürfen, die weder zugelassen noch deklariert sein müssen, weil sie sich entweder während des Prozesses selbst zersetzen oder hinterher wieder entfernt werden – tatsächlich können sie im Endprodukt noch in Spuren enthalten sein –, ist ein besonderes Ärgernis für uns Verbraucher. Und selbst bei dem, was deklariert werden muss, liegt der Teufel im Detail: Zitronensäure, wie sie in fast allen Marmeladen enthalten ist, klingt harmlos. Dabei macht es für unseren Organismus durchaus einen Unterschied, ob sie aus natürlichem Zitronensaft stammt (in dieser Form dann aber in industriellen Abläufen schwierig zu dosieren ist) oder synthetisch hergestellt wurde.

Bei der handwerklichen Herstellung dagegen wird hauptsächlich von Hand gearbeitet. Das schließt die Unterstützung durch Maschinen (welcher Bäcker kann 150 kg Brotteig auf einmal von Hand kneten?) keineswegs aus und ist auch keine Frage der Betriebsgröße. Auch ein Großunternehmen kann Lebensmittel auf handwerkliche Weise herstellen. Allerdings braucht es dazu Zutaten bester (geschmacklicher) Qualität, entsprechendes Know-how, also ausgebildete Fachkräfte, und Zeit, damit die Lebensmittel ihren Geschmack auf natürliche Weise entfalten können. Es braucht aber auch die Bereitschaft von uns Verbrauchern zu akzeptieren, dass die Kaisersemmel – je nach Tagesform des Bäckers oder den Backeigenschaften des Mehls – nicht tagein, tagaus 100% gleich schmeckt. Oder dass es abends um zehn keine frischen Semmeln mehr gibt, weil das Aufbacken gekühlter Rohlinge ohne den Zusatz künstlicher Enzyme nicht funktioniert. Dafür sind die Produkte, die auf unserem Teller landen, zwar nicht unbedingt billig, aber preiswert im Sinne von „ihren Preis wert“.

Die Gegenüberstellung der Zutatenlisten von einer Rohwurst, einem Hartkäse und einiger Backerzeugnisse – einmal aus handwerklicher und einmal aus industrieller Herstellung – sowie die anschließende lebhafte Diskussion bringt es noch einmal auf Punkt: Was braucht es wirklich z.B. für ein gutes Brot – nämlich Mehl, Wasser, Hefe und Salz und sonst gar nichts, und was braucht es definitiv nicht – nämlich Stabilisatoren, Emulgatoren, Aromen, Säurestabilisatoren und Enzyme. Das ist die Frage, die wir uns täglich beim Einkauf stellen sollten, auch wenn es mühsam ist. Denn auf diese Weise machen wir uns zu Ko-Produzenten unserer Lebensmittel: indem wir handwerklich hergestellten Produkten den Vorzug geben und damit eine Nachfragesituation schaffen, der sich die Lebensmittelhersteller auf Dauer nicht entziehen können.

Vortrag Dr. Hanns-E. Kniepkamp: Klicken Sie hier